Wien ist anders
Wenn Seeleute erstmalig in ihrem Leben den Äquator überqueren, ist meist die sogenannte Neptuntaufe nicht weit: Der Neuling wird mit allerlei stinkenden und brennenden Badeartikeln eingerieben und darf fortan einen zusätzlichen Kosenamen tragen. Ähnliche Rituale für die erste Auswärtsfahrt sind in der wackeren Fangemeinde zwar nicht überliefert, dennoch bleibt auch sie für viele von uns in besonderer Erinnerung. So erging es zuletzt auch einem Vereinsmitglied, das sich für seine erste Auswärtsfahrt die Bundeshauptstadt ausgesucht hat. Wobei „Auswärtsfahrt“ in diesem Sinne noch wörtlicher als wörtlich zu nehmen ist, werden doch schon für die Fahrt zum Heimspiel am Tivoli allein mehr als 600 Kilometer zurückgelegt. Dennoch lockte die Neugier auf Neues und Unbekanntes. Der Vergleich zwischen dem heimeligen Tivoli-Wohnzimmer und dem Auf-sich-Gestellt-Sein in der Fremde reizte zu sehr. Und nicht zuletzt bietet das Pilgern in die Ferne auch immer neue Perspektiven des Landes kennenzulernen, vor allem wenn es sich wohl um das schönste überhaupt handelt: Österreich.
Die Sonne kam heraus
Wolkenverhangen blieben die meisten Tiroler Täler, nur die Skifahrer freuten sich über den Wolken über einen sonnigen Skitag. Neidisch war ich nicht, ich hatte besseres vor. Welch eine Ironie, dass ausgerechnet über der Salzburger Bullenarena zum ersten Mal die Sonne blinzelte. Für die Wiener Neustädter tat sie dies definitiv nicht, denn die Pfeiffenberger-Elf verlor dort noch am gleichen Tage mit 1:3. Weitere interessante Entdeckungen blieben auch nicht aus: Zum Beispiel das Vergnügen, mit Attnang-Puchheim den wohl schönsten Bahnhof Österreichs passiert zu haben oder das mit Hochhäusern zugepflasterte Bahnhofsviertel in Linz. Ob man von dort oben bis zum Patscherkofel hätte schauen können? Wohl eher nicht, aber je weiter es gen Osten ging, umso größer wurde die Sehnsucht zum Land der Berge. Spätestens in der niederösterreichischen Provinz, in der es sich manch vorbeiziehender Bauernhof nicht nehmen ließ, alle Reisenden mit Hilfe eines Spannbettlakens und blau-gelbem Farbspray auf die Wahl des anscheinend geliebten Onkels aus St. Pölten aufmerksam zu machen, wähnte ich mich in einem anderen Kulturkreis. Nicht zuletzt auch deswegen, weil es plötzlich dunkel wurde, ganz dunkel. Nein, in Wien scheint auch tagsüber die Sonne, nur der neue Tunnel am Tullnerfeld sollte den Passagieren wohl nicht zeigen, wo sie es noch hinverschlagen wird.
Vorbei mit der heilen Welt
Kaum in Wien kam, was kommen musste. Hütteldorf. Gemeinsam mit seiner Baracke, das nebenbei auch noch als Heimstätte des Rekordmeisters genützt wird. Da wirkte der dazugehörige Bahnhof wesentlich attraktiver. Mit seinem monarchistischen Touch ließ er ein wenig K.u.K.-Flair aufkommen, das mir für den Rest des Tages weitgehend abgehen sollte. In der Lounge des mit viel Geld restaurierten Westbahnhofs bot sich endlich etwas Ruhe, bis zwei Zeitgenossen im gleichen Raum vergleichen wollten, wer von ihnen wohl den längeren hat. Beide zückten stolz das beste, was sie bieten konnten: Ihre Taschenmesser mit diversen Hilfsgerätschaften an Bord. Wie gut, das die Ablenkung nicht mehr fern war: Die Partie unserer Schwarz-Grünen im Horr-Stadion. Was in Tirol allerdings nicht mehr fern ist, bedeutet in Wien eine halbe Weltreise. Zwei U-Bahnen und zwei Bims später kam er nun endlich in Sicht, der Verteilerkreis. Wie gut, dass unsere treuen Wiener Vereinsmitglieder im Vorfeld mit allerlei Tipps aufwarteten, der wichtigste davon: Neutrale Kleidung. Denn ob im schwarz-grünen Kapuzenpulli ein Tiroler Bauerkind oder ein deutscher Dauergast steckt, macht dem hartgesottenen Austrianer wohl keinen Unterschied. Beides wäre wohl schlimm genug, ihn an der Weiterfahrt zu hindern.
Interessante Erkenntnisse
Was bleibt also von jener Stadt, die zu klein für einen Vielvölkerstaat erschien aber zu groß für die kleine Rest-Republik? Erstens: Wien ist schön – wenn man den ersten Bezirk nicht verlässt. Zweitens: Den Schmäh gibt’s wirklich. „Hearns, steigens hier a aus?“ Mit jener kurzen Frage gab eine ältere Dame ihren Wunsch zu erkennen die Bahn zu verlassen, wohl in dem Wissen, dass der Angesprochene noch ein paar Stationen vor sich hat. „Nein, aber ich lasse sie trotzdem gern durch“: Deutsche Direktheit ist manchmal hilfreicher als man denkt und unterbindet sinnlose Diskussionen. Drittens: Vom Essen verstehen sie etwas, die Hauptstädter. Fiakergulasch, Frankfurter mit Kren, Debreziner. Die Liste ließe sich unendlich fortsetzen.
Eine Insel der Seligen
Endlich im Auswärtssektor angekommen, fast 500 Kilometer von Innsbruck entfernt, überkommen einen unerwartet heimatliche Emotionen. Man sieht viele Gesichter, die man sonst nur von der Nordtribüne kennt. Schnell kehrt ein Gefühl der Zusammengehörigkeit ein. Es schweißt zusammen, als kleiner Fleck im violetten Grau unseren Verein, unsere Farben, unsere Stadt zu vertreten. Sozusagen das kleine, stolze gallische Dorf im von den Römern besetzten Reich. Endlich kehrt Verständnis ein für jene, die immer wieder von der besonderen Stimmung bei Auswärtspartien berichten. Das 0:4 tat weh, aber wenn es für die Tivoli Nord nichts zu feiern gibt, feiert sie sich eben selbst. Neben der Liebe zum eigenen Klub kam mit Fortdauer des Spiels bald ein weiterer Aspekt hinzu: Nach Wien gehöre ich nicht. Denn Auswärtsfahrten können neben der notwendigen Unterstützung der eigenen Mannschaft noch einen angenehmen Nebeneffekt haben: Sie stärken die Bindung zum eigenen Verein und zeigen auf, wie schön es zu Hause doch ist. Und trotz der Schmährufe der violetten Anhängerschar konnte ich sagen: Selten war ich so stolz, Fan des FC Wacker Innsbruck zu sein. Meine Mannschaft war da und ich bin ihr gefolgt.
An dieser Stelle ein Satz an diejenige, die eh weiß, wer gemeint ist: Ein großes Dankeschön für dieses Erlebnis, für die gewonnenen Eindrücke, die mein eigenes Fan-Sein bereichert haben. Und ganz besonders für die Betreuung vor Ort: Ohne Dich wäre das „Tiroler Bauernkind“ aus Deutschland aufgeschmissen gewesen in der großen Stadt und ja, Deine Verbundenheit zu unserem Verein kann ich nun noch in einem ganz anderen Licht verstehen. An meinen FC Wacker Innsbruck sei versprochen: Die letzte Auswärtsfahrt ist das nicht gewesen…