Der Kampf um Leben und Tod
Jonas Jonasson schrieb den Roman: „Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand.“ Beim Lesen begegnet man einem Mann, der seinen hundertsten Geburtstag partout nicht im Altersheim, welches er bewohnt, feiern will. Daher beschließt er kurzerhand, genauer gesagt, wenige Stunden bevor die Geburtstagsfeier stattfinden soll, sich auf den Weg zu machen. Wie der Titel des Buches schon sagt, der Mann kletterte aus dem Fenster seines Altersheimszimmers und verschwand. Der Leser wird Zeuge einer sich spannend entwickelnden Geschichte, in dieser man nach und nach immer mehr Einblicke in das Leben dieses Hundertjährigen erhält.
Auch Wacker Innsbruck feiert in diesem Jahr seinen Hunderter. Da stellt sich die Frage, wie man den Verein personifizieren würde. Im derzeitigen Zustand würde Wacker Innsbruck wohl kein Parterre eines Innsbrucker Altersheim bewohnen. Viel mehr drängt sich ein anderes Bild in den Vordergrund: Eine Einheit auf einer Intensivstation. Ein Patient liegt im Koma. Aus den meisten Körperöffnungen kommen irgendwelche Schläuche und Zugänge. Das Geräusch von Überwachungsgeräten, die alles überwachen, durchdringt den Raum. Die lebenserhaltenden Maschinen arbeiten auf Hochtouren. Rund um das Bett versammelt stehen die Angehörigen und blicken auf den von ihnen geliebten Menschen. Ratlosigkeit und Hilflosigkeit sind in ihre Gesichter geschrieben.
Der Zustand des Patienten hatte sich in letzter Zeit massiv verschlechtert. Der Kampf zwischen sein und nicht sein spitzt sich zu. Vor kurzem erst gab es den ersten Herzalarm, das Reanimationsteam in Form der Politik gab ihr bestes und brachte das Herz noch einmal zum schlagen. Da war es bereits knapp gewesen, aber der Zustand verbesserte sich wieder ein wenig. Vor allem Doktor Kirchler verschaffte den Angehörigen und Freunden mit seiner Therapie ein kleines bisschen Hoffnung. Doch auch er war machtlos, als der nächste Rückschlag am Dienstag kam. Das kleine Pflänzchen Zuversicht wurde erneut zerstört. Und es drängt sich der Verdacht auf, dass die Professoren und Spezialisten den engsten Vertrauten mitgeteilt hatten, dass sie vor der Wahl stehen, ob sie die Maschinen endgültig abdrehen oder nicht. Dies zu entscheiden ist wahrlich schwer. Auf der einen Seite will niemand die Verantwortung für diese letzte Konsequenz übernehmen. Denn egal, wie man sich entscheidet, es wird immer Kritiker dafür geben. Und blickt man so ins Zimmer sind die Rollen bereits verteilt. Die Kinder, die sich über diese Frage den Kopf zerbrechen. Sie stehen derzeit im Mittelpunkt. Schräg dahinter hat der Cousin Platz genommen. Er ist der Sunnyboy, der sich ohne etwas entscheiden zu wollen oder zu können bereits mit Phrasen wie „ich würde“ oder „ich hätte“ aus der Verantwortung stehlen wird. Egal welche Entscheidung getroffen wird, er geht als der Gute daraus hervor. Denn hätte man ihn entscheiden lassen, er hätte anders entschieden. Ein weiteres Stück abseits stehen entfernte Verwandte. Sie stehen ebenfalls zusammen und stecken die Köpfe zusammen. Auch sie sind dabei bereits ihr eigenes Süppchen zu kochen. Natürlich nur zum Wohle des Patienten.
Bei den Kindern, die entscheiden müssen, zieht das Leben des hundertjährigen Patienten vorbei. Es gab dabei die Höhen und Tiefen. Hundert Jahre ist ein schönes Alter. Was früher für unwahrscheinlich, ja utopisch galt, ist für Kinder dieser Generation zur Erwartung geworden: Das dreistellige Lebensalter. Und doch waren in letzter Zeit von den knapp zweitausend Familienmitgliedern und den zigtausenden so genannten Freunden nur die wenigsten gekommen, um beim zwei wöchentlichen Treffen teil zu nehmen. Die meisten haben dem Hundertjährigen den Rücken zu gekehrt. Natürlich wurden vom Jubilar auch Fehler gemacht, deren Rechnung man präsentiert bekommen hat. Doch sollen die Maschinen weiter laufen? Ist in der derzeitigen Verfassung ein Abschalten die vielleicht bessere Variante? Die Entscheidung wird sehr viel Gegenwind erzeugen. Hat man die Kraft und den Mut dazu zustehen? Lässt man die Maschinen weiterlaufen, wer sagt denn, dass in nächster Zukunft der Zustand sich verbessert? Möglicherweise steht man schon in einem Jahr wieder am Krankenbett und bangt um das Leben des Patienten?
„Was ist, ist, was kommt, kommt“ ist ein zentraler Satz in dem Buch von Jonas Jonasson. Das Buch gilt als höchst empfehlenswert. Aber wie jedes Buch ist auch dieses nach einer gewissen Kapitelanzahl zu Ende. Der hundertjährige FC Wacker Innsbruck wird noch viele neue Kapitel schreiben. Es werden lustige, traurige, einzigartige und schöne sein. Denn es steht außer Diskussion, dass die Hausaufgaben erledigt werden und in zweiter Instanz alles passen wird. Doch damit wird keine Feierstimmung ausgelöst. Das Gefühl der Erleichterung wird sich einstellen. Danach gilt es für alle Angehörigen eine Operation zu veranlassen, die notwendig wird. Der Schnitt soll unter Garantie einen Neuanfang einläuten. Ob man es unter Schönheitsoperation laufen lässt oder als Geschwürentfernung, jeder kann den Schnitt nennen wie er will, aber eines muss endlich im Vordergrund stehen: Das Wohlergehen des schwarz-grünen Patienten. Damit es dann in Zukunft heißen kann: „Der zweihundertjährige Fußballverein, der aus dem Fenster stieg und durch Europa reiste“