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Bleiben wir bitte oberflächlich!

Deutschland ist in heller Aufregung. Die Medien sind randvoll, Kamerateams rücken an, der einfache Bürger empört sich auf der Straße, Experten (oder Menschen mit einer gewissen Affinität, die sich selbst als Experten bezeichnen) analysieren, oder genauer gesagt, wiederholen das eben Gesehene mit eigenen Worten, um die Wirkung zu verstärken. Tja, dann muss es ja stimmen. Oder etwa nicht? Es wird doch nicht etwa…? Hat vielleicht eine kleine Satireshow einen Finger in ein Video gezaubert, der eigentlich nie gezeigt worden war? Völlig nebensächlich, unsere Nachbarn diskutieren über ein Symptom, das wahre Problem rückt dabei in den Hintergrund. Ob dies ein deutsches Phänomen ist? Mitnichten…

 

Symptome statt Ursachen

Beispiel Innsbruck. Seit Jahr und Tag wird über das Symptom, über die seit Saisonen andauernde Unleistung des FC Wacker Innsbruck gesprochen. Vielleicht nicht ganz so exzessiv, nicht ganz so von den Medien gehypt, und schon lange nicht mehr ganz so emotional. Die Toleranzentwicklung schlägt auch hier zu, der 14. verpasste, nicht erfolgte Sieg im 15. Spiel in Serie schmerzt schon längst nicht mehr so sehr. Doch wozu über die Ursachen einer anhaltenden Krise, eines über Jahre andauernden Abwärtstrends sprechen, über ein für den Verein ruinöses Agieren in den Strukturen abseits des grünen Rasens, wenn man sich doch so schön an Fehlpässen, Fehlschüssen und verlorenen Zweikämpfen abarbeiten kann. Und ganz ehrlich, wer sind wir, dass wir hier nicht ihren Gelüsten entsprechen würden? Sprechen wir über den metaphorisch gestreckten Mittelfinger der Mannschaft. Dass etwa bei 13 Torschüssen 5 vom nominellen Sturm kamen (und sämtlich im Strafraum abgegeben wurden), 5 aus dem Mittelfeld (von denen nur Simon Pirkls Versuch innerhalb der Box stattfand), und drei von Verteidigern. Dass gut die Hälfte davon nicht aus dem Spiel, sondern aus Standards entstanden sind. Dass jedoch nur der Kopfball des mit 36 Jahren ältesten Spielers am Platz (mehr als doppelt so alt wie Mittelfeld-Youngster Simon Pirkl) nach eben solch einem Standard zum ersten Tor seit 364 Minuten geführt hat, und das bei deutlich positivem Ballbesitz von 64,3 %. Wer jedoch die Lauf- und Passwege beobachtet oder die Heatmap analysiert hat, weiß, dass es sich bei diesem Ballbesitz nicht um Offensivdruck, sondern im Gegenteil um Angst vor Ballverlust und Ideenlosigkeit gehandelt hat und sich zum überwiegenden Teil zwischen Tormann (32 erfolgreiche, 8 Fehlpässe), Viererkette und linkem Mittelfeld abspielte. Bestes Beispiel dafür: 93 Ballaktionen von Christian Schilling, dem linken Außenverteidiger.

Jö schau, der Osterhase!

Falls nach vielen belanglosen Zahlen bei einigen doch das Interesse hochkommt, über Hintergründe zu sprechen, heißt es schnell reagieren. Und ablenken. Denn was bei Kindern funktioniert, während sich Onkel Doktor mit der Spritze nähert („Jö schau, der Osterhase!“), oder bei Steuerzahlern, wenn sich die Veröffentlichung der eigenen Verfehlungen nähert („Jö schau, ein Stinkefinger!“), das muss auch im Fußball funktionieren. Sie können es etwa intellektuell anlegen und ihre humanistische Bildung nach außen kehren. 364 Minuten… Wussten sie, dass 364 Valerian nach dem überraschenden Tod Jovians römischer Kaiser wurde? Oder dass 1362 Sylt durch die zweite Marcellusflut zur Insel wurde und den Kontakt zum Festland verloren hat? Den Kontakt zu den Fans haben auch die Schwarz-Grünen verloren, nur noch 1362 Zuschauer verirrten sich ins Tivoli, um die schlechteste Wacker-Mannschaft aller Zeiten zu sehen. Ein Titel, der zum zweiten Mal in Folge an die Akteure geht, denn nach einer Katastrophen-Saison in der Bundesliga holte man in 24 Spielen nur 23 Punkte, erzielte nur 20 Tore – so wenig wie noch kein FC Wacker Innsbruck zuvor in der zweithöchsten Spielklasse. Auch im vergangenen Jahr stand man nach 24 Spielen auf dem letzten Tabellenplatz, konnte 13 Niederlagen verbuchen, hatte jedoch 9 Tore mehr erzielt. Der Abstand ans rettende Ufer betrug jedoch ebenfalls schon 9 Punkte, derzeit sind es „nur“ vier.

Aber die anderen…

Manchmal bleibt jemand lästig und will dennoch wissen, was der Grund für die Krise ist. Dann kann man nur mehr durch Redeschwall beschwichtigen, bildet optimaler Weise lange und monotone Sätze, bei welchen sich das Gegenüber stark konzentrieren muss, um den Verlauf zu folgen und am Ende zu bemerken, dass keinerlei Informationen präsentiert wurden, sondern nur leere Worthülsen wie „Kampf“, „Verbesserung“, „neues Selbstvertrauen“, vielleicht etwas kerniger präsentiert, um die Verbundenheit mit dem „einfachen Fan“ zu zeigen, die man ja eigentlich gar nicht hat respektive die man vermeiden will – und dann schwenkt man um auf etwas völlig anderes. Etwa den kommenden Gegner, in diesem Fall St. Pölten, an welchen man mit einem Sieg (dem ersten Auswärtssieg seit 7 Auftritten in der Fremde, aber das erwähnt man besser nicht) bis auf einen Punkt heranrücken könnte. Man lässt nebenbei einfließen, dass die Niederösterreicher bereits seit 6 Spielen sieglos sind, dabei dreimal ohne Torerfolg blieben und gleich drei Niederlagen einstecken mussten (und verschweigt, dass Wacker in der selben Phase vier Niederlagen bei zwei Remis einstecken musste und mit 12 Toren doppelt so viele kassierte wie die Blau-Gelben). Man betont, dass keine Mannschaft im Frühjahr weniger Punkte holen konnte als St. Pölten (und behält für sich, dass dennoch Innsbruck am letzten Tabellenrang des Jahres 2015 steht). Und außerdem haben die Schwarz-Grünen noch nie verloren, wenn sie ein Tor gegen St. Pölten geschossen haben. Bäm. Nur… Wer soll bei Innsbruck die Tore schießen?

Mission erfolgreich

Merken Sie etwas? Sie haben sich über die Mannschaft geärgert, über die Fehlpässe, Fehlschüsse und verlorenen Zweikämpfe, über nicht gewonnene Spiele, über Querpässe am eigenen Strafraum eines Routiniers und die fehlende Kompetenz der Offensivkräfte am Platz. Und worüber haben Sie nicht nachgedacht? Wie es dazu kommen konnte, wer die Verantwortung für dieses anhaltende Desaster und die Zusammensetzung der Mannschaft trägt, welche Strukturen und Personen dazu führten, dass viele gute und durchschnittliche Spieler zu einem unterdurchschnittlichen Team wurden. Ein Stinkefinger ist halt doch spannender als die trockenen, erschreckenden Hintergründe…

 

 

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Autor: Stefan Weis

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