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Der perfekte Pinkelstopp (6)

Wir könnten jetzt über spielentscheidende Statistiken reden. Wir könnten die Geschichte herauskramen und den Sportclub Rheindorf Altach zum Lieblingsgegner (drei Siege in den letzten vier Spielen, letztes Auswärtsspiel ein 2:1-Erfolg) oder, je nach Belieben, zum Angstgegner deklarieren (nur vier Siege in allen 13 Liga-Begegnungen, zwischendurch eine Unserie von acht Partien ohne einen Dreier). Oder wir wenden uns den wichtigen Dingen des Lebens zu…

Einfach laufen

Manchmal kommt man ins Alter. Oder ist noch nicht in diesem. Manchmal ist auch die übermäßige Aufnahme von gegärten stärkehaltigen Stoffen, eventuell mit Alkoholgehalt, der Grund, dass man es nicht mehr bis zur vorgesehenen Spielunterbrechung jeweils 45 Minuten aushält. Und dann muss man einfach. Da kann das Spiel noch so spannend sein oder gerade eine gefährliche Aktion laufen, wenn die Natur ruft, ruft sie laut. Aber wann ist der beste Zeitpunkt, um auf die Toilette zu eilen? Böse Stimmen rund ums Tivoli behaupten, wenn Wacker am Ball ist. Schwarz-Grüne Torchance verpasst man keine und den Gegentreffer nach Ballverlust erspart man sich. So böse die Stimmen auch sind, so recht haben sie. Innsbruck ist die schlechteste Offensivmanschaft der Liga, mit Abstand. 21 Tore, rund ein Drittel von dem, was Salzburg bislang auf den Rasen gezaubert hat und immerhin noch 15 Tore schlechter als der kommende Gegner Altach, dessen Torverhältnis eine saubere Null ist und damit um nochmals 21 Tore besser als jene der Tiroler. Angenommen, man startet von ganz oben von der Tribüne, hat realistischer Weise – egal ob Auswärtssektor oder Tivoli – freie Bahn bis in die Toiletten, kommt nach ein paar schwierigen Startsekunden gut ins Laufen, wäscht brav die Hände und hetzt zurück zum Spielfeld, dann sind da wohl maximal drei Minuten der spannenden Begegnung vergangen, ein 31stel der Spielzeit. Jener Spielzeit, in welcher der FCW derzeit im Schnitt 0,5 Tore schießt, denn mit nur vier Treffern in acht Frühjahrspartien ist man abgeschlagen Schlusslicht auch in dieser Tabelle. Die Chance ist also 1:62, dass mein Pinkelstopp mit einem wackeren Jubel zusammenfällt. Das entspricht in etwa der Chance, sechsmal in Folge bei „Kopf oder Zahl“ richtig zu liegen (1:64). Probieren Sie es einmal aus – erträglich, das Risiko.

Ecken nützen

Jetzt stellt sich aber die Frage, welche drei Minuten nehmen? Eine Spielunterbrechung bietet sich an, ein Wechsel bei Ballbesitz in der gegnerischen Hälfte oder eines der, sagen wir, Fouls, die etwa an Cheikhou Dieng begangen werden und von welchen er sich oft nur recht schwer erholt. Zumindest bei einem für Wacker nicht ungünstigen Spielstand. Spielerwechsel finden meist erst in Halbzeit zwei statt, und die anderen Situationen sind zwar auffallend, aber nicht gar so häufig, dass man darauf warten kann. Optimal wäre also eine Situation, in welcher Innsbruck längere Zeit in Ballbesitz ist – Eckbälle. Sobald der Ball über die Torauslinie kullert geht’s los. Denn das Spielgerät muss erst mühsam besorgt werden, will dann ungern an der äußeren Begrenzungslinie des Eckfahnenbereichs – oder, wie sie Ernst Happel nannte, Koanaflagg – liegen bleiben, es folgen die Schubsereien, Platz- und Rangkämpfe im Strafraum, gerne greift der Unparteiische ein und sorgt für Ordnung, der Ball wird getreten und manchmal sogar in Tornähe gebracht… Ich höre schon einige einwerfen, man kann doch nicht bei einer der wenigen Spielsituationen die Zuschauerplätze verlassen, bei welchen das wackere Spiel eine unmittelbare Torgefahr ausstahlt. Doch, kann man, finde ich. Man kann auf die Toilette gehen, am Handy die anderen Spielstände checken, sich noch ein Getränk besorgen, den Instagramm-Status updaten oder sich die Schnürsenkel binden. Im Frühjahr gab es für Innsbruck 49 Eckbälle. Wissen sie auch, wie viele Tore daraus entstanden sind. Mir fällt gerade nur eines ein, und das war der erste Gegentreffer im letzten Spiel gegen Mattersburg. Also null für Innsbruck, zumindest ein Tor für den Gegner trotz Ballbesitz tief in der Angriffshälfte. Wenn das kein perfekter Zeitpunkt ist, dann kenn ich keinen anderen. Aber ist das eigentlich nur ein Problem der ohnehin schon viel gescholtenen wackeren Offensive?

Unnütze Ecken

Ist es wohl nicht. Schon 2013 veröffentlichte Chris Anderson in seinem Buch „The Numbers Game: Why Everything You Know About Soccer Is Wrong“ eine eigentlich gar nicht so überraschende Analyse von 1434 Ecken und stellte fest, dass nur knapp 2% von diesen zu einem Torerfolg führen. Umgerechnet auf Wacker würde das für das Frühjahr fast ein Tor bedeuten. Gut, das Tor nach Innsbruck-Ecke haben eben die Burgenländer geschossen, die wackere Erfolglosigkeit ist aber eine Bestätigung dieser Theorie. Doch nur weil es in einem Buch steht, muss es nicht stimmen. Und wenn dieses Buch Soccer zu Football sagt, muss man es kritisch hinterfragen. Das wurde auf Reddit gemacht, der Seite mit unzähligen aberwitzigen Theorien und doch auch manchen fundierten Aufarbeitungen. Ein unter dem Nutzernamen „hesussavas“ schreibender und derzeit in Berlin wohnender Russe machte sich mit Hilfe von Open-Source-Datensätzen an ein noch größeres Analyse-Unterfangen. 11.234 Spiele mit 115.199 ausgeführten Ecken aller Art. Egal, ob sie den Strafraum überflogen oder kurz abgespielt wurden, ob sie als Banane direkt aufs Tor gezirkelt wurden oder an den Sechzehner zum Abschloss aus der Distanz. Das Ergebnis war ähnlich erschreckend. Nein, erschreckender: nur 1,27 Prozent aller Ecken führten zu Torerfolgen, doch knapp mehr als die Hälfte resultierte in Ballbesitz für den Gegner. In den 11.234 Spielen aus Premier League, Bundesliga, Champions League, WM, EM und noch vielen anderen hochklassigen Sportschauplätzen fielen 30812 Tore, aber nur 1459 oder 4,73% davon resultierten aus Cornern. Umgerechnet fielen nur in 12,99% der Spiele ein Tor aus einer Ecke, in 87,01% der Spiele wartet man auf ein solches vergeblich. Und da sprechen wir von Teams wie Bayern und Chelsea, Frankreich und Brasilien. Die Münchner etwa treffen in weniger als einem Prozent der Fälle und brauchen rund 80 Corner für einen Erfolg. Ein Erfolg, der sich laut Statistik eher einstellt, wenn man kurze Ecken spielt oder überraschende Varianten. Also, ruft die Natur und ein wackerer Spieler schlendert zur Ecke – gehen Sie pinkeln.

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Autor: Stefan Weis

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