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Die Lustbarkeiten der Großnasen*

(Sonntag, 12. Mai)

Teurer Freund Dij-Gu.

Ich habe in einem meiner letzten Briefe geschrieben, dass nun die Zeit für mich gekommen ist, nach dem privaten Leben der Großnasen das öffentliche Leben und namentlich das ihres Staates zu erforschen. Heute will ich Dir von den öffentlichen Lustbarkeiten der Großnasen berichten.

Vorgestern sagte Herr Shi-Shmi zu mir, er wolle mir die Hauptstadt zeigen, in welcher einst unser geliebter und hochverehrter Kaiser wohnte und die wir Kaj-feng nannten. Sie trägt nun den Namen Wi-jn. Mein Herz brannte heiß und fror doch zugleich. Könnte ich dort ein Bruchstück unserer Kultur erhaschen, das die Zeiten überstanden hat? Bringt mich Herr Shi-Shmi gar zu einer Vorführung von Werken der von mir so verehrten Meister Mo-tsa oder We-to-feng, deren hohe Kunst ich durch das Orchester aus dem Musikteller kennenlernen durfte? Während meine Gedanken wie tausend Feuerdrachen die Dunkelheit meines Gemüts erhellten, sorgte ich mich auch über die lange Reise dorthin.

Früh, als die Straßen-Lampions, die die ganze Nacht brennen, noch durch das gewaltige Glasfenster meiner winzigen Kammer leuchteten, machten wir uns auf den Weg. Herr Shi-shmi war zunächst ganz trübsinnig, als wir auf die große Steinstraße vor dem Haus traten. Er sagte: „Shai-we-ta“, was offenbar soviel wie „Regentröpfchen im kalten Wind des Westens“ bedeutete. Ich war nicht unglücklich, denn unsere dumpfen Enkeln – mit Ausnahme von gebildeten und sensiblen Leuten wie Herrn Shi-shmi – spannen im Regen Schirme auf. Der Schirm scheint die einzige unserer Errungenschaften zu sein, die auf unsere Enkel gekommen ist. An ihnen erkennt man mühelos Männer und Weiber auseinander, die Weiber tragen nämlich verschiedenfarbige Schirme, die Männer ausschließlich schwarze. Warum das so ist, weiß ich natürlich nicht, ebenso wenig ob die Farben der Weiberschirme irgendwelche Rangstufen anzeigen. Doch darüber nachzudenken blieb mir keine Zeit, Herr Shi-shmi führte mich zu einem großen Gebäude, das unzählige Menschen verschluckte und sie auch wieder ausspie. Bah-noh wir es genannt, hier führen, wie in den steinernen Straßen die vorgezeichneten Eisenwege der großen fahrenden Häuser Tam-ta, noch mehr Eisenwege zusammen, doch alles viel gewaltiger. Ich werde Dir dazu in einem späteren Brief schreiben, wenn sich mein Herz von dieser unmenschlichen Geschwindigkeit wieder etwas erholt hat, welche mich im Tsu-u, so nennen die Großnasen dieses noch viel gewaltigere Eisenhaus, immer wieder hat ohnmächtig werden lassen.

In Wi-jn wurde meine Freude schnell gedämpft. Hier war alles noch lauter, noch grauer. Die grobgesichtige Masse der grauen Leute wälzte sich durch die Straßen und blickt freudlos. Ob diese Missgunst von der Rindsmilch kommt, die sie ständig trinken? Oder macht sie ihr gehetztes Leben, ihr ständiges Fort-Schreiben, unzufrieden? Kein Tröpfchen, kein Steinchen unserer großen Kultur ist hier mehr zu sehen, alles wurde durch grobgehauene Steine, liebloß gepflanzte Bäume und graue Schleier überdeckt. Als Herr Shi-shmi mir dann auch offenbarte, er führe mich nicht zur Musik – dem einzigen Lichtblick in dieser Welt abseits der porzellanfarbenen Formen von Frau Pao-leng – sondern zu einem großen Spiel in ein Dorf voller Hütten, konnte ich nicht im Geringsten erahnen, was mich erwartete. Vor einem Gebäude in Grün, das von den Einheimischen als Tempel verehrt wird und doch nicht im Entferntesten an die Baukunst unserer Meister, die Wunderwerke wie den Palast der himmlischen Klarheit errichtete, erinnerte, sammelten sich die Großnasen, die auch in Grün gekleidet waren. Hier wurden die mit weißen Streifen von jenen mit schwarzen Streifen getrennt und zu gesonderten Eingängen geführt, zu welchen sie von sich aus drängten. Ach, hätte ich nur vorab gewusst, was mich erwartete! Denn dort am Tor standen Männer und Weiber in Uniform und hielten mich sogleich fest. Ohne Zweifel handelte es sich um Nachfahren kaiserlicher Schergen. Der Ton, in dem sie mit mir brüllten – ich verstand natürlich kein Wort – war mir sogleich geläufig. Ich wollte mich gerade mit einer Achtel-Verbeugung vorstellen, da umfassten sie alle Stellen meines Körpers mit einem festen, unangenehmen Griff, und noch bevor ich einen Ton hervorbrachte, schubsten sie mich weiter. Endlich im Tempel des Westens angelangt, standen wir plötzlich in einem Käfig, umgeben von Meterhohen Zäunen, eingepfercht und zusammengedrängt wie wilde Tiere im Wundergarten unseres geliebten Herrschers. Hätte Herr Shi-shmi doch nur ein Hem-Hem mit weißen Streifen gewählt, man hätte uns wohl mit dem gebührenden Respekt begrüßt, der einem Kwan der vierhöchsten Rangstufe und Ehemann zweier Nichten der erhabenen, alles überstrahlenden Majestät zugestanden wäre. Ich stand völlig verstört und wie auf einer geländerlosen Brücke über einem Abgrund in diesem Gehege und dachte an die Verse unseres großen Lin Tsung-yüan – den sie hier gewiss auch nicht mehr kennen:

„Wenn du nach Norden ziehst,

Frühling, wann kommst du nach Tsin?

Nimm meinen Traum dorthin.

Trag in den alten Garten

Den Traum, dass ich zu Hause bin.“

Aber was hält das Menschenherz nicht alles aus. Weit unter uns öffnete sich uns eine breite, grüne Wiese mit weißen Linien, auf welcher 23 Mann einer runden Kugel nachjagten. Die Grünen, so sagte mir Herr Shi-shmi, kämen aus der Hauptstadt und würden Ha-bida gerufen, jene in Weiß wären, wie Herr Shi-shmi selbst, aus In-sbuk. Dass Herr Shi-shmi diese favorisierte, wurde sogleich klar, als rund um mich die Großnasen zu singen und brüllen begannen. Keine feinen Klänge der großen Meister, deren Wunderwerke ich mir erhofft hatte, sondern Töne wie einst beim Fest des Herbstmondes in Min-chen, von dem ich Dir in einem vergangenen Brief schon berichtete, durchbohrten meine Ohren. Was würde Euer Meister We-to-feng zu diesem Lärm sagen? schrie ich. Er war ja taub! schrie Herr Shi-schmi zurück. Das kann ich jetzt verstehen! schrie ich.

Am Rasen suchten die Männer, den Ball in einen Rahmen mit Netz, der entfernt an eine Übergroße Fischreuse erinnerte, zu bringen, welches an beiden Enden des Platzes befestigt war. Zunächst schien mir das Unterfangen ein schwieriges zu sein, denn die Fläche dürfte eine leichte Neigung aufgewiesen haben, welche es den Weißen, die Wa-ka gerufen wurde, unmöglich machte, den hüpfenden und rollenden Ball in ihr Ziel zu tragen. Als ich Herrn Shi-shmi fragte, warum denn die Wa-ka die Farbe der Trauer trügen und ob sie einen Verlust zu beklagen hätten, sagte er mir, Wa-ka hätte ständig Verlust zu beklagen, man müsste auch zu Hause und nicht nur in der Ferne das weiße Hem-hem tragen. Dabei hatte er ein Lächeln im Gesicht, das mir nicht ganz klar machte, wie dies zu verstehen war.

Warum die Spieler von Ha-bida und Wa-ka den Ball nicht auch einfach in die Arme nahmen wie jene Männer in bunten Hem-Hem, die an den Seiten vor den Reusen standen, blieb mir ein Rätsel. Ebenso, dass niemand dem kaiserlichen Schergen, im würdevollen Gelb gekleidet, der stets nahe dem Ball lief und wohl das Spielgerät zu erlangen suchte, das Spielgerät zu überlassen gedachte. Zwei Schergen, die an den seitlichen Begrenzungen mit Fahnen liefen, schienen nicht daran interessiert zu sein, am Spiel teilzunehmen. Mir blieb das ganze Schauspiel fremd.

Herr Shi-shmi, der sich durch seine Zartfühligkeit von der Grobschlächtigkeit der anderen Großnasen abhebt, sah wohl die Leere in meinem Blick und drückte mir einige Münzen in die Hand und sandte mich, ein Getränk zu erwerben, dass sie hier Hal-ba nennen und in Bechern aus weichem Glas verkauft wird. Ich ging also aus dem Käfig an den Laden und sagte mein Sprüchlein, das mir eingetrichtert worden war. Auf Chinesisch bedeutet das Sprüchlein: „Ein viertel scheng des Hopfensaftes, bitte.“ (Hal-ba heißt ein viertel sheng). Die Formulierung ist außerordentlich knapp, zu Hause hätte ich selbst bei knapp bemessener Zeit natürlich gesagt: „Würdest du, unvergleichliche Ladenbesitzerin, Sonne des Stadtviertels, die Güte haben, einen viertel scheng deines duftenden Gebräus mir unwürdigem Zwerg herabzureichen und das Maß deiner Güte vollmachen, indem du diese bescheidene, schmutzige Münze dafür entgegennimmst?“ – doch auch das wäre zu lange gewesen, hörte ich doch gerade in diesem Moment einen unermesslichen Schrei aus tausenden Kehlen, der mein Blut gefrieren ließ. Auch wenn es mir wie ein Kampfschrei der Völker des Nordens jenseits der großen Mauer klang – durch die Öffnungen sah ich im Inneren des Tempels doch Großnasen sich gegenseitig an den Hals gehen und sich, so meinte ich zunächst, nach dem Leben trachten – es war wohl ein Klang der Freude über einen Ball, der im Netz gelandet war, das To-a genannt wird.

Wer dies nun erzielte, mein teurer Freund, und wie das Spiel endete, kann ich dir leider nicht sagen. Eine Seite muss aber einen großen Verlust erlitten haben, sah ich doch vereinzelt bei Männern wie Weibern Tränen aus ihren Augen rinnen wie ein kleines Bächlein im himmlischen Garten des Vorfrühlings.

Diese Welt wird mir noch lange ein Rätsel bleiben.

Es grüßt Dich Dein ferner Freund

Kao-tai

*“Briefe in die chinesische Vergangenheit“ ist ein Briefroman des in Bozen geborenen, bayerischen Autors und Juristen Herbert Rosendorfer (1934-2012) aus dem Jahr 1983. Ein Mandarin aus dem China des 10. Jahrhunderts versetzt sich mit Hilfe eines Zeit-Reise-Kompasses in die heutige Zeit. Er überspringt nicht nur tausend Jahre, sondern landet auch in einem völlig anderen Kulturkreis. Verwirrt und wissbegierig stürzt sich Kao-tai in ein Abenteuer, von dem er nicht weiß, wie es ausgehen wird. In Briefen an seinen Freund im Reich der Mitte schildert er seine Erlebnisse und Eindrücke, erzählt vom seltsamen Leben der »Großnasen«, von ihren kulturellen und technischen Errungenschaften und versucht Beobachtungen und Vorgänge zu interpretieren, die ihm selbst zunächst unverständlich sind.

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Autor: Stefan Weis

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